Rilkes Hauskapelle in Muzot
Moderne Dichtung in archaischer Vornehmheit
Tatsächlich konnte in Muzot weder von politischen Bezügen noch von Templern die Rede sein: Gerade hier, im Wallis, handelte es sich bei dem Swastika-Zeichen um regionale Volkskunst, man findet es gleich mehrfach in der nahe gelegenen Kirche von St-Pierre-de-Clages, und es war in der Gegend, vor allem im Val d'Anniviers, verbreitet als dem Brot eingeprägtes Siegel. Ähnliches weiß man übrigens von nordeuropäischem Gebäck. Und die betonte Plazierung über dem Eingang der Hauskapelle macht die Annahme zwingend, daß es sich um einen zeichenhaften Heil- und Segenswunsch für den Eintretenden handelte, auch beim Brot möchte man an eine solche Bedeutung denken. Wenn Rilke in seinem Brief an Antoine Contat die Ortschaft Rarogne erwähnt, so ist anzumerken, daß sich auf dem dortigen Ossuarium zwei Swastiken finden. Wirkliche Aufschlüsse würde hier nur eine volkskundliche Monographie des Wallis geben.
Rilkes Haltung zu dem Zeichen der Swastika war also geradezu antipolitisch; keine Aktualität aus Deutschland mischte sich in seine Betrachtungen, die sich auf mögliche Beziehungen zu den alten Eigentümern beschränkten. Im zweiten Teil der „Sonette an Orpheus" heißt es: „Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert / Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen /Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert." Mehr noch geben die „Quatrains Valaisans", sechsunddreißig französisch geschriebene Gedichte Rilkes aus dem Sommer 1924, das Bild des Wallis als einer Ideallandschaft, von Göttern und Elementen - Licht, Wind, Wasser und Erde -begünstigt, ursprünglich und geöffnet zugleich; archaisch, bäuerlich gewiß, von eigener Vornehmheit und klar. Das war es, was er in Muzot gesucht und gefunden hatte, und so mochte ihm auch die Swastika erscheinen. Aber jede nähere Bedeutungszuschreibung vermied er - glücklich, in der neutralen Schweiz den deutschen Kämpfen künftig entgehen zu können.
FAZ v. 18. Februar 2006