Dienstag, September 06, 2016

Ein Sonnengedicht



Mit 79 Jahren schrieb Goethe in Dornburg diese Zeilen:

Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten
Nebelschleiern sich enthüllen,
Und dem sehnlichsten Erwarten
Blumenkelche bunt sich füllen;

Wenn der Äther, Wolken tragend,
Mit dem klaren Tage streitet,
Und ein Ostwind, sie verjagend,
Blaue Sonnenbahn bereitet,

Dankst du dann, am Blick dich weidend,
Reiner Brust der Großen, Holden,
Wird die Sonne, rötlich scheidend,
Rings den Horizont vergolden. 

Oberflächlich gesehen ist hier ein Naturvorgang beschrieben. Es ist aber von einem Ich die Rede. Dieses Ich erwartet sehnlichst das aufgehende Licht, das zum Symbol, zum Abglanz des Göttlichen wird. Wird der Sonnenaufgang  wie auch ihr Untergang dankbar erlebt - und es ist nicht nur der Abend des Tages, sondern auch der Abend des Lebens gemeint - dann wird der Übergang "vergoldet" sein.
Ist Goethes Sehweise ferne Träumerei oder kann sie helfen, uns Menschen zum inneren Einklang mit uns und der Schöpferwelt zu führen?